Umstrittener Urheber der Horror-Story

'Geköpfte Babys': Angeblicher Zeuge rief zu Siedler-Pogrom gegen Palästinenser auf

Welt
Screenshot: Twitter

Gräuelpropaganda verbreitet sich schnell. Während sogar israelische Tageszeitungen sich tagelang skeptisch gaben und die Geschichte der "40 geköpften Babys" in einem grenznahen Kibbuz lange nicht brachten, verbreitete sich die Behauptung in der westlichen Welt wie ein Lauffeuer. Etliche Zeitungen brachten die Story sogar auf der Titelseite. Auch die israelischen Armeeoffiziellen gaben sich abwartend. Während sich noch die Frage stellte, ob sie eine Erfindung eines radikalen Siedlers in Uniform ist, wollten zahlreiche Instanzen die Geschichte nach einem Besuch von US-Außenminister Anthony Blinken plötzlich bestätigt wissen.

Geschichte geht um die Welt

Der Status hinterfragte als erstes deutschsprachiges Medium kritisch den Wahrheitsgehalt der Horror-Story, später sollte auch der TKP-Blog eine medienkritische Analyse publizieren. Man stürzte sich im Mainstream ohne Fragen zu stellen auf die Geschichte, obwohl sie in ihrer Anatomie wie eine Räuberpistole wirkte. Als einzige Original-Quelle dienen israelische "Soldaten", welche den schrecklichen Fund gemacht haben wollen, gegenüber dem Sender "i24 News". Dem an fremdsprachiges Publikum in aller Welt gerichteten Medium wird ein enges Näheverhältnis zur Netanjahu-Regierung nachgesagt. 

Obwohl bereits der Vorwurf kritische Geister an die berüchtigte "Brutkasten-Lüge" erinnern konnte, verbreitete sich die spekulative Geschichte rund um den Globus. Nach wenigen Tagen gilt sie bereits als DAS Indiz schlechthin, welches einen erbarmungslosen Vergeltungsschlag Israels rechtfertigen könnte. Sogar US-Präsident Joe Biden sprach über "Bilder von Terroristen, die Kinder enthaupten", die er gesehen habe, ehe ein Sprecher des Weißen Hauses dies später dementieren musste. Währenddessen wuchsen die Zweifel an der Geschichte immer weiter, auch israelische Journalisten äußerten diese. 

Offizielles Israel wollte nicht bestätigen

Während Regierungs-Accounts auf Twitter die Geschichte rasch in alle Windrichtungen trugen, erklärte Richard Hecht, der offizielle Sprecher der israelischen Armee, noch am Mittwochmittag, dass man die Berichte "weder bestätigen noch dementieren" könne und auch nichts über deren Ausmaß sagen könne. Insbesondere habe die Armee keine Zahl angeblich ermordeter Kinder genannt. Die Soldaten welche von "40 geköpften Babys" im 765-Einwohner-Örtchen Kfar Asa sprachen, wären keine offiziellen Sprecher der israelischen Streitkräfte. Offenbar schien man sich seiner Sache im israelischen Apparat noch vor wenigen Stunden nicht allzu sicher. 

"Augenzeuge" ist radikaler Siedler

Und die Sache kommt noch dicker, wenn man einem Bericht des linken US-Portals "The Grayzone" glauben darf. Demnach sei der Unteroffizier David Ben Zion, der Urheber der Erzählung nämlich ein Soldat, der im radikalen Siedler-Milieu tätig. Im Vorfeld eines Gewaltausbruchs gegen Palästinenser im Dorf Huwara im Westjordanland habe dieser in seiner Funktion als Anführer einer umstrittenen Siedlergemeinschaft aufgerufen, "das Dorf auszulöschen, weil es ein Terrornest ist und die Bestrafung alle kollektiv treffen soll."

Die beiden "Grayzone"-Autoren Max Blumenthal und Alexander Rubinstein legten nach: "[Sein] Aufruf zur Kollektivbestrafung in Huwara war bei Weitem nicht sein einziger genozidaler Fluch gegen Palästinenser. In Wahrheit habe er seine Social-Media-Konten regelmäßig dafür benutzt, zu Kriegsverbrechen aufzurufen und die 'Abschiebung der palästinensischen Massen' zu fordern." Als Beispiel zitieren sie einen Beitrag von 2016: "Das palästinensische Volk ist ein Feind. Wir können seine Barbaren-DNA nicht ändern." 

Schon seit Jahren bewege sich Ben Zion, der vor zwei Jahren erfolglos versucht habe, für eine Siedlerpartei in die Knesset einzuziehen, in Kreisen extremistischer Siedler an vorderster Front. Es entstand ein fürchterlicher Verdacht: Handelt es sich also bei der Horror-Geschichte der "geköpften Kinder" um die politisch motivierte Erfindung eines notorischen Palästinenser-Hassers, um die Stimmung im Land und gegebenenfalls darüber hinaus in Richtung eines rabiaten Angriffs Israels auf die Palästinensergebiete zu beeinflussen? 

Nach US-Besuch plötzlich öffentliche Bilder

Gerade als die Zweifel an der Geschichte überhand nahmen, folgte dann zur Überraschung vieler die große Kehrtwende. Das offizielle Israel, das seine Toten sonst gemäß dem jüdischen Glauben niemals aufbahrt, zeigte am späten Mittwochnachmittag plötzlich eindrückliche Bilder von Kinderleichen. Ein verschwommenes Bild zeigt ein in Blut getränktes Kind, die andere Leiche ist verkohlt. Laut offizieller Erzählung soll es sich dabei um zwei tote Kleinkinder aus dem überfallenen Kibbuz handeln. Auch die "Jerusalem Post", die zuvor geschwiegen hatte, bestätigte fast zeitgleich die angebliche Authentizität und Glaubwürdigkeit der Geschichte. 

Berichtet wurde davon, dass die Bilder im Zuge eines Besuchs von US-Außenminister Anthony Blinken gezeigt wurden. In der Folge waren plötzlich alle Zweifel ausgeräumt und jene Bilder, die man die letzten Tage nicht hatte, wurden plötzlich der Weltöffentlichkeit präsentiert. Auch aufgrund dieser Abfolge der Ereignisse, wo nach Gesprächen mit dem großen Verbündeten alles anders ist, trauen manche Beobachter der Sache immer noch nicht so recht. Wir werden die weiteren Entwicklungen in dieser Geschichte beobachten und bei neuen Erkenntnissen gegebenenfalls weiter berichten. 

ZDF-Moderator Markus Lanz ließ die potenzielle Rolle der USA anklingen - "Gut, dass wir den Faktencheck via Amerika machen":

Tote Palästinenserkinder kein Thema

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung scheint doppelt opportun. Denn nur wenige Stunden zuvor wurde bekannt, dass bei einem israelischen Luftschlag auf eine Schule im Gazastreifen bis zu 30 Schüler und 11 UN-Mitarbeiter zu Tode kamen. Nun spricht zwar jeder über die toten israelischen Kinder - aber niemand über die toten palästinensischen Kinder. Fakt ist, dass die neuerliche Eskalation im Nahost-Konflikt auf beiden Seiten großes Leid insbesondere für die Zivilbevölkerung bringt. Dass dabei große Grausamkeit im Spiel ist und Menschen bestialische Taten gegen andere Menschen verüben, die man sich nicht vorstellen mag, ist eine traurige Gewissheit. 

Aktualisierung (12.10.23, 19:45 Uhr): Kurz nach der Publikation dieses Artikels tauchten plötzlich Bilder auf, welche das Massaker angeblich belegen sollen. Wir haben unseren Artikel entsprechend dem neuen Kenntnisstand angepasst. 

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