Sehenswert: Ägyptischer Satiriker zerpflückt westliche Logik im Gaza-Konflikt
Die geopolitischen Schachzüge sind so absurd, dass sie selbst als Hollywood-Drehbuch wohl abgelehnt würden: Alles wird auf ein einfaches Gut-Böse-Schema herunter gebrochen, selbst der jahrzehntealte Nahost-Konflikt. Der bekannte ägyptische TV-Moderator und Satiriker Bassem Youssef zeigte nun in einem Interview in der Polit-Talkshow von Piers Morgan in einer Mischung aus beißendem Humor und scharfer Kritik die Widersprüchlichkeit der westlichen Logik zum Konflikt auf und regt zum Nachdenken an, dass etwas selten schwarz-weiß ist, sondern es eben mehr als eine Perspektive gibt.
Der "Wechselkurs" menschlichen Lebens
Youssef hat einen persönlichen Bezug zu Gaza, denn die Familie seiner Gattin lebt dort. Den Hamas-Angriff verurteilt er, aber auch die Vergeltung durch israelische Bomben sieht er als kritikwürdig. So sagt er gleich nach dem Einstieg mit beißendem Augenzwinkern: "Wir wissen nicht, wie es ihnen geht, aber das kennen wir: Sie werden bombardiert werden und müssen ständig den Ort wechseln. Diese Palästinenser neigen zum Drama: 'Aaah, die Israelis töten uns.' Aber irgendwie sterben sie nie und kommen immer wieder zurück. Sie sind schwer zu töten. Ich weiß das ja, ich bin mit einer verheiratet. Hab's oft versucht, aber sie nutzt unsere Kinder immer als menschliche Schutzschilde."
Als nächstes zeigt er ein Diagramm mit den Totenzahlen im Gaza-Konflikt: "Das Verhältnis ändert sich ja jährlich. Also frage ich mich: Was ist der heutige Wechselkurs für ein Menschenleben? Schau her, 2014 war ein großartiges Jahr dafür: 88 Israelis und 2.329 Palästinenser starben. Das sind 27 Palästinenser für einen Israeli. Das ist ja ein fabelhafter Wechselkurs. Also frage ich mich: Was ist der Wechselkurs, mit dem ihr heute zufrieden seid?" Und legt nach: "Ich weiß ja nicht, was 2014 passiert ist. Da gab es kein Musik-Festival, aber irgendwas muss ja gewesen sein, denn es ist ja schließlich ihre Schuld. Oder 2018: Da starben 300 Palästinenser, wer zählt da noch?"
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— 𝕮𝖆𝖊𝖘𝖆𝖗 𝕾𝖆𝖑𝖒𝖆𝖓🇨🇺 (@s_mossawi) October 18, 2023
Tote im Westjordanland - ohne Hamas
Auf die Rückfrage von Morgan, was er an der Stelle Israels machen würde, meint Youssef: "Ich würde genau das tun, was Israel tut: Möglichst viele Leute töten, da es mir die Welt ja durchgehen lässt. [...] Aber weißt du was, ich stimme dir zu, aber ich gehe einen Schritt weiter. Denn die nächste Frage ist, ob ich die Hamas verurteile. Ja, das tue ich, die sind doch die Wurzel allen Übels. Aber stellen wir uns mal kurz eine Welt ohne Hamas vor. Und geben wir ihr einen Namen: Westjordanland. Hamas hat dort absolut nichts zu sagen. Alleine seit August wurden dort 37 palästinensische Kinder getötet. Ohne Musik-Festival, ohne Fallschirmspringer, ohne Hamas."
Seit der Besetzung des Westjordanlandes seien 7.000 Palästinenser dort getötet worden. Aber die Geschichte des Westens wiederhole sich ständig: "Zuerst behandelt ihr sie wie Wilde - etwa die Indianer [...] und dann, wenn sie fast ausgerottet sind, habt ihr plötzlich Mitleid mit ihnen, wie mit Tieren. Also ist die Lösung vielleicht: Lass uns so viele Palästinenser wie möglich töten, sodass euch die wenigen verbleibenden nicht stören. Und dann in 100 Jahren starten dann irgendwelche Baum-Umarmer eine Kampagne für den Schutz der drei letzten Palästinenser."
Terror als Frage der Perspektive
Youssef hinterfragt auch die Logik des israelischen Flächenbombardements im Gazastreifen und bringt Morgan dazu zuzugeben, dass Israel die ganze Hamas auslöschen will. Daraufhin meint Youssef: "Also verstehe ich das richtig: Die Israelis wollen die Palästinenser so dazu bringen, sich gegen Hamas aufzulehnen?" - Morgan: "Ja, ich bin mir sicher, das gehört zum Plan."
Darauf kontert Youssef, der damit vorführen will, dass Morgan einer Einstufung der israelischen Vergeltung als Terror-Akt quasi zugestimmt habe: "Aber das ist doch, was Terror-Organisationen tun - weil sie keine Chance haben, eine ganze Nation am Schlachtfeld zu besiegen, terrorisieren und töten sie Zivilisten, damit diese in Furcht und Schrecken sind und sich gegen ihre Regierung erheben. [...] Sie haben gerade Israel und ISIS verglichen."
Auch Israelis haben Grund, sauer zu sein
Aber der Humorist geht noch einen Schritt weiter: "Ich werde jetzt einmal so tun, als wäre ich ein israelischer Bürger und mich in die Lage eines israelischen Siedlers im Kibbuz versetzen. Und jetzt will ich mit meinem Premier sprechen: 'Herr Netanjahu, ich habe Sie gewählt, weil Sie uns Frieden, Wohlstand und Sicherheit versprachen. Am 7. Oktober zerstörten die Hamas-Hurensöhne den üblicherweise bestens bewachten Zaun [...] und konnten sechs Stunden lang wüten, ehe die Armee geschickt wurde. Sie töteten unsere Freunde und Familien, nahmen unsere Großmütter und Kinder als Geisel.'"
Er wolle daher aus dieser Perspektive fragen: "Herr Netanjahu, nachdem sie unsere Gesellschaft spalteten und unser Justizsystem zerstörten: Was machen Sie mit dem Geld, das Ihnen die Amerikaner gaben? Außerdem machen Sie ein Flächenbombardement in Gaza, ohne Rücksicht auf die Sicherheit unserer Geiseln zu nehmen. Ich habe im Kibbuz ein Gerücht gehört, dass Sie das tun, um die Leute dort auf die Sinai-Halbinsel zu vertreiben. Und ich wollte das nicht glauben - mein Premier tut so was doch nicht, aber dann habe ich das Interview mit Ihrem Ex-Berater & US-Botschafter Danny Ayalon gehört, der forderte, sie dort in Zeltstädten unterzubringen, bis wir sie zurückholen."
Und weiter: "Den Film haben wir doch alle schon gesehen. Ich wusste nicht, wie ich meinen Genossen im Kibbuz erklären sollte, dass unsere Regierung menschliches Leben gegen ein Stück Land eintauscht. Ich will daher wissen, wie kann ich meine Regierung in die Verantwortung ziehen." Dieser Kalauer hat übrigens eine für westliche Beobachter häufig verborgene tiefere, zweite Ebene: Bei der Kibbuz-Bewegung handelt es sich um eine gleichermaßen sozialistische wie patriotische Denkrichtung. Im Kibbuz gibt es kein Privateigentum, das Land der Siedler wird genossenschaftlich verwaltet und bewirtschaftet. Etwa 120.000 der fast 7 Mio. jüdischen Israelis leben in einem Kibbuz.
Zweifel an israelischer Opferrolle
Youssef hinterfragte auch die israelische Selbstdarstellung: "Israel sieht sich ja gerne in der Opferrolle. Ich habe noch nie ein Opfer gesehen, das seinen Unterdrücker rund um die Uhr bombardiert. Die Israelis wollen, dass ihr an ihre Opferrolle glaubt. Aber es ist wie in einer Beziehung mit einem narzisstischen Psychopathen: Er ruiniert dich und dann redet er dir ein, es wäre alles deine Schuld. Ihr glaubt, Israel sei Superman, aber letztendlich schießt Israel auf Fische in einem Metallfass und wundert sich dann darüber, dass Wasser hochspritzt." Freilich eine äußerst gewagte Aussage - aber sie erklärt die Aufgebrachtheit vieler Araber ein Stück weit.
Er wolle vor diesem Hintergrund wissen: "Wie lassen sich die Tötungen im Westjordanland rechtfertigen, wo es keine Hamas gibt. Und wenn die überschießende Reaktion in der Vergangenheit angeblich funktioniert hat - was wird diesmal anders sein? Das war eigentlich auch schon meine einzige Frage." An dieser Stelle will Morgan, der die Kontrolle über das Interview schon lange verloren hat, ihn aus der Show werfen. Aber er zeigt noch ein Handy-Bild in die Kamera: "Oh, die Familie meiner Frau hat sich gemeldet. Es geht ihnen gut, sie haben uns ein Bild eines Hauses geschickt. Es ist zerbombt. Es ist wunderschön, es wird eine traumhafte Halloween-Kulisse abgeben."
Nachdem Morgan noch demonstrativ englische Freundlichkeit zeigt und ihm Mitgefühl für das Schicksal seiner Familie mitgibt, nimmt sich Youssef noch das letzte Wort: "Oh, diese Familie: Ich kenne sie gar nicht, ich habe sie noch nie getroffen. Sie konnten ja nicht zu meiner Hochzeit kommen, weil sie sind ja in Gaza eingesperrt. Und meine Frau kann sie auch nicht besuchen, weil Gaza existiert ja als Reiseziel nicht. Aber wir hören ihre Stimmen und irgendwann sterben sie halt, das geht dann schon in Ordnung." Und auch wenn man Youssef nicht unbedingt in allen Punkten zustimmen muss, machen seine kritischen Einwürfe allemal nachdenklich.
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