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Die Dosis macht das Gift

Medizin im Alter: Lebensverlängerung oder häufigste Todesursache?

Medizin
Bild: Freepik

Angesichts eines zunehmenden Medikamentenkonsums bei gleichzeitigem Anstieg der Lebenserwartung, könnte man einen kausalen Zusammenhang vermuten. Dreist wird auch behauptet, dass etwa 40% der Zunahme unserer gestiegenen Lebenserwartung auf neue Pharmaka zurückzuführen wäre.(i) Allerdings erhöhte sich das Lebensalter bis zu den Covid-19-Genspritzen bereits seit 200 Jahren pro Jahrzehnt um ca. 2,5 Jahre.(ii) Jetzt ist das Sterbealter trotz ungebremstem Tablettenhunger in den Sinkflug gegangen.

Eine Zunahme der Lebenserwartung durch Medikamente gehört in das Reich der Pharmafantasien. (iii) Menschen in Alten- und Pflegeheimen, die mehr Pharmaka erhalten als bei häuslicher Betreuung, sterben deutlich früher. (iv) Auch bleibt das letzte Lebensjahr, in dem etwa 40% der Lebenszeitkosten für Gesundheitsdienstleistungen verbraucht werden, trotz aller Aufwendungen das letzte Lebensjahr. (v) Deutschland verzeichnet die häufigsten Krankenhausaufenthalte wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen aller OECD-Staaten. Die Sterblichkeit an Durchblutungsstörungen des Herzens ist dabei fast doppelt so hoch wie in Schweden und übersteigt die in Ländern mit vergleichbarer Altersstruktur (z.B. Italien). (vi)

Eine angebliche „Verbesserung des Risikoprofils für Herz-Kreislauf-Erkrankungen“ durch Blutdruck- und Cholesterinsenker hat in den letzten 25 Jahren die Sterbefälle in Deutschland nicht vermindert. Nur in pharma-finanzierten Studien sinkt das Herzinfarktrisiko durch die sogenannten Statine, die das Cholesterin im Blut vermindern. (vii) Eine Lebensverlängerung ist auch gar nicht plausibel, da Statine lebenswichtige Stoffwechselwege blockieren und Cholesterin ebenso wenig ein Giftstoff wie CO2 ist. Menschen jenseits von 90 Lebensjahren haben hohe Cholesterinspiegel. Auch Covid-Kranke hatten niedrigere Cholesterinwerte als eine Kontrollgruppe. (viii) 

Massive Medikamenteneinnahme

Dennoch nehmen gemäß einer FORSA-Umfrage im Auftrag der Bundesvereinigung deutscher Apothekerverbände (ABDA) 29% der Deutschen vom Kleinkind bis zum Greis regelmäßig 3 und mehr Medikamente ein. (ix) Das entspricht einem jährlichen Konsum von 15 Packungen für jeden Deutschen. (x) Bei Menschen über 70 sind 5 und mehr Medikamente inzwischen an der Tagesordnung. Das Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen vergrößert sich dadurch bei Senioren um das 10fache. (xi) Mindestens 1/3 der verordneten Medikamente sind dabei völlig unnötig oder für ältere Menschen inadäquat. (xii)

In deutschen Alters-und Pflegeheimen erhalten Insassen 5x so häufig Psychopharmaka wie in Schweden. (xiii, xiv) Und es sind nicht nur Neuroleptika, sondern auch zahlreiche andere Medikamente, die Botenstoffe im Gehirn beeinträchtigen. (xv) Fataler Weise entstehen durch die unnötigen Medikationen oft Verschreibungskaskaden zur Behandlung unerwünschter Arzneinebenwirkungen als eigenen Krankheiten. Mindestens 10% der Klinikaufnahmen sind auf unerwünschte Medikamentenwirkungen zurückzuführen. (xvi)

Problematische Selbstmedikamentation

Viele Ärzte unterschätzen die Risiken, wenn nur die verordneten Medikamente im Medikationsplan berücksichtigt werden, nicht jedoch die Pharmaka, die sich Patienten rezeptfrei selbst genehmigen. Letztere machen aber nicht weniger als die Hälfte der verkauften Menge aus. (xvii) Eigentlich müsste das Absetzen von Medikamenten so häufig wie die Verschreibung neuer Medikamente sein. Jede Verordnung bedarf daher einer Befristung. Standardreflex der Medizin ist jedoch oft die Dosiserhöhung oder die zusätzliche Gabe weiterer Pharmaka.

Medikamentöse Dauertherapien sind hierzulande jedoch ein Dogma der Medizin, das nur der Pharmaindustrie, aber kaum je dem Kranken dient. Für die wenigsten Medikamente existieren valide Studien, wie lange eine Gabe sinnvoll ist, obwohl Toleranzeffekte mit der Dauer der Einnahme zunehmen und der Quotient aus Wirkung zu unerwünschten Wirkungen sinkt. Abnahme oder Verlust der Wirkung von Medikamenten bei längerer Einnahme sind ein Tabu.

Vergiftung durch Medikamente

Wenn mit zunehmendem Alter und abnehmender Trinkmenge die Nierenfunktion abnimmt, wären immer wieder Dosisanpassungen aller Medikamente nach unten erforderlich, da die meisten Substanzen bzw. deren Abbauprodukte über die Nieren ausgeschieden werden. Dies geschieht jedoch allzu selten. Medikamente werden daher im Alter zu progredienten Quellen der inneren Vergiftung. Nicht die Hitze tötet im Sommer alte Menschen, sondern es sind meist zu hohe Medikamentenspiegel.

Der Gesundheitszustand bessert sich dementsprechend vielfach alleine durch das Beenden von Langzeitmedikationen und auch, weil Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten entfallen. Absetzeffekte schulmedizinischer Medikamente befördern maßgeblich die Illusion von Erfolgen in der Komplementärmedizin. (xviii)

Jeder Medikamentenkonsum muss im Alter vom Kranken, dessen nächsten Angehörigen und dem behandelnden Arzt noch kritischer als sonst überdacht werden. Depression, Unruhezustände und Schlafstörungen werden immer wieder einer vermeintlichen „Demenz“ zugeordnet und dabei verkannt, dass meist Medikamente chronische Verwirrtheitszustände (Delir) oder eine „Demenz“ bewirken. Je mehr Medikamente eingenommen werden, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit einer Demenz(-Diagnose). (xix)

Univ.-Doz.(Wien) Dr. med. Gerd Reuther ist Arzt und Medizinhistoriker sowie Autor mehrerer medizinkritischer Sachbücher wie „Der betrogene Patient“. 2023 erschienen von ihm „Hauptsache Panik – Ein neuer Blick auf Pandemien in Europa“ und „Letzte Tage – verkannte und vertuschte Todesursachen berühmter Personen“.

Lichtenberg FR: The impact of new drug launches on longevity: evidence from longitudinal, disease-level data from 52 countries, 1982-2001. Int J Health Care Finance Econ 2005; 5(1):47-73

ii Weiland SH et al.: Zunahme der Lebenserwartung. Größenordnung, Determinanten, Perspektiven. Dtsch Arztebl 2006; 103(16):A-1072-7

iii Onder G et al.: Polypharmacy and mortality among nursing home residents with advanced cognitive impairment: results from the SHELTER study. J Am Med Dir Assoc 2013;14(6):450.e7-12

iv Lankers D et al.: Do dementia patients living at home live longer than in a nursing home? Z Gerontol Geriatr. 2010; 43(4):254-8

v Busse R: Welche Kosten verursacht das letzte Lebensjahr? Public Health Forum 1994; 2(4):16; https://doi.org/10.1515/pubhef-1994-1133

vi OECD (2015): Health at a Glance 2015: OECD Indicators, OECD Publishing, Paris; http://dx.doi.org/10.1787/health_glance-2015-en

vii http://www.thennt.com/nnt/statins-for-heart-disease-prevention-without-prior-heart-disease/; letzter Zugriff am 13.07.2016

viii Xingzhong H et al.: Low serum cholesterol level among patients with Covid-19Infection in Wenzhou, China. Clin Chim Acta 2020;510:105-10

ix https://www.abda.de/uploads/tx_news/ABDA-Umfrage_Polymedikation_2015_Ergebnistabellen.pdf; letzter Zugriff am 08.07.2016

x http://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/nachricht-detail/umsatzstruktur-apotheken-mehr-umsatz-weniger-packungen/?t=1

xi Larson EB, Kukull WA, Buchner D, Reifler BV: Adverse drug reactions associated with global cognitive impairment in elderly persons. Ann Intern Med 1987; 107:169–73

xii Burkhardt H: „Weitere Problemfelder der Gerontopharmakotherapie und pragmatische Empfehlungen“. In: Wehling M, Burkhardt H (Hrsg.): Arzneitherapie für Ältere. 3., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer 2013; 269–90

xiii AOK-Bundesverband: Pflege-Report 2017; http://aok-bv.de/presse/pressemitteilungen/2017/index_18363.html

xiv Depuydt P et al.: Nursing home residence is the main risk factor for increased mortality in healthcare-associated pneumonia. J Hosp Infect 2011; 77(2):138-42

xv Depuydt P et al.: Nursing home residence is the main risk factor for increased mortality in healthcare-associated pneumonia. J Hosp Infect 2011; 77(2):138-42

xvi Lazarou J, Pomeranz BH, Corey PN: Incidence of adverse drug reactions in hospitalized patients: a meta-analysis of prospective studies. JAMA 1998; 279(15):1200-5

xvii Der Arzneimittelmarkt in Deutschland – Zahlen und Fakten 2014. Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e.V., Bonn 2015

xviii Ernst E: A scientist in Wonderland: A memoir for searching truth and earning trouble. Imprint Academic, Exeter 2015

xix Lai S, Lin C, Liao K, Su L, Sung F, Lin C: Association between polypharmacy and dementia in older people: a population-based case-control study in Taiwan. Geriatr Gerontol Int 2012; 12 (3):491–98

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