Ein Anwalt kämpft für Gerechtigkeit

Interview: Serbien leidet noch heute schwer unter Uran-Kriegsverbrechen

Welt
Milan Timotic

Fast 25 Jahre nach den US-Uran-Kriegsverbrechen steht Serbien auf der Liste der Krebstode in Europa an erster Stelle und weltweit auf zweiter Stelle. Milan Timotic sprach für Der Status mit dem serbischen Rechtsanwalt Dr. Srđan Aleksić. Er kämpft für die Rechte der zahlreichen Opfer des grauenhaften Genozids.

Uran-Munition: Im Krieg ein Verbrechen, im Frieden Völkermord

Belgrad - Vor 24 Jahren (genau am 24. März 1999) begann der kriminelle NATO-Pakt eine beispiellose Aggression gegen Jugoslawien. Der  damalige NATO-Generalsekretär, Javier Solana, erteilte den Bombenbefehl an Wesley Clark, den amerikanischen General der alliierten Streitkräfte, in 19 der mächtigsten Länder Europas eingespannt waren. Ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates wurde dieser mit dramatischen Folgen für die Serben ausgeführt. Heute, fast zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Angriff auf Serbien und Montenegro, können wir vorbehaltlos sagen, dass diese Aggression ein Präzedenzfall in Bezug auf die Zahl der Opfer ist, die durch die bis zu 15 Tonnen abgeworfener Uran-Munition an den schwersten Formen von Krebs als Spätfolge zum größten Massenmord Serbiens wurde. Offizielle Daten zeigen, dass in Serbien jedes Jahr 30.000 Menschen mehr an Krebs erkranken, der durch abgereichertes Uran verursacht wird, und bis zu 15.000 Serben daran versterben. Die bis zu 37.000 Streubomben die mit verheerenden Folgen auf die Serben geworfen wurden, verursachten abseits des Genozids auch einen Ökozid.


Foto: Milan Timotic 1999 für Reuters

Serbiens Mainstream-Medien und die breite Öffentlichkeit interessieren sich kaum für diesen andauernden Massenmord an den Serben, obwohl so viele Angehörige haben, die Opfer dieses Verbrechens sind oder werden. Stattdessen wird die Gedenkkultur voll und ganz dem Völkermord von Jasenovac gewidmet. Eine Ausnahme stellt hier die Kanzlei des Rechtsanwalts Dr. Srđan Aleksić aus Niš dar. Mit seinen Kollegen beschloss Aleksić, die Verbrecher und ihre Taten durch ein Gerichtsverfahren offenzulegen. Sie sollen rechtlich verpflichtet werden, den Familien der Opfer und den Kranken zumindest eine finanzielle Entschädigung zu erkämpfen. Wohlwissend, dass diese den seelischen Schmerz nicht tilgt. Der serbische Anwalt dokumentiert die Begebenheiten präzise und sucht so das Schweigen zu brechen und die Wahrheit, die sich nicht länger verbergen lässt, ans Tageslicht zu bringen. Wir sprachen mit Dr. Srđan Aleksić, der seiner verstorbenen Mutter, die ebenfalls an Krebs durch die mit Uran abgereicherte Munition erkrankt war, zu Lebzeiten versprochen hatte, für Wahrheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.

Herr Aleksic, haben Sie seit Beginn Ihrer Tätigkeit in all den „Fällen“, die Sie erreicht haben, neue Erkenntnisse über abgeworfenes Uran als Krebsursache?

Ermutigt durch die Ergebnisse des italienischen Anwalts und mittlerweile meines Mitarbeiters Angelo Fiola Tartaglia begann, trat ich mit Begeisterung und wahrem Glauben an den Erfolg diese Arbeit an. Und das noch bevor die führenden Akteure der NATO-Aggression bereits wegen eines Verbrechens gerichtlich verurteilt wurden (Anm. d. Red.: das Urteil wurde später aufgehoben)

Wenn man bedenkt, dass Belgrad und alle größeren Städte Serbiens, insbesondere Kosovo und Metohija, den wahllosen Bombenangriffen von hundert oder mehr Flugzeugen ausgesetzt waren, war dies nicht nur ein Angriff auf materielle Güter, sondern auch auf Menschenleben. Die Folge von all dem war ein plötzlicher und mehrfacher Anstieg der Krebsinzidenz, und diese Zahl erreicht jetzt jedes Jahr bis zu 30.000 neue Fälle, von denen die Hälfte meistens mit schrecklichen Todesqualen endet. Bei all der Forschung, die für konkrete Beweise notwendig ist, sind wir auch auf eine neue Tatsache gestoßen, nämlich dass Patienten, deren Krebs durch abgereichertes Uran verursacht wurde, am häufigsten Krebs an verschiedenen Organen gleichzeitig bekommen. Das heißt, sie bekommen verschiedene Arten von Krebs  an mehr als einem Organ, meist gleich an zwei oder sogar dreien. Ein wesentlicher Unterschied zu jenen, die auf natürliche Weise krank werden und an einer Stelle Krebs bekommen, aus dem Metastasen entstehen. Da ich kein medizinischer Experte bin, möchte ich aber nicht näher auf die medizinischen Details eingehen. Jeder, der sich für die Wahrheit interessiert, kann sich darüber informieren. Soweit ich es verstehe, bedeutet es, dass eine Person ein Hodgkin-Lymphom, ein Melanom, Lungenkrebs und gleichzeitig etwa einen Hirntumor bekommen kann. Das Tragischste von allem ist, dass Serbien in Bezug auf die Sterblichkeit durch Krebs, die gerade durch die Wirkung von abgereichertem Uran verursacht wird, den ersten Platz in Europa und den zweiten Platz weltweit erreicht hat. Das ist natürlich kein Wunder, wenn nach der Anerkennung des NATO-Paktes alleine 15 Tonnen abgereichertes Uran auf Serbien abgeworfen wurden und dies eine 100 Mal stärkere Strahlung verursachte als die Atombomben-Abwürfe von Hiroshima und Nagasaki. Weiters bedeutet das, dass ganz Südosteuropa vom Ökozid heimgesucht wird, unter dem nicht nur Serbien leidet, sondern auch Albanien, Montenegro, Nordmazedonien, Bulgarien und Rumänien.

Quelle: Milan Timotic fotografierte Dr. Srđan Aleksić für "Der Status"

Ich weiß nicht, ob das Verbot noch gilt, aber ich weiß zum Beispiel, dass seit dem Aufkommen von Covid Blutanalysen auf Gifte in unserem Land nicht mehr durchgeführt werden können. Wie schafft man es denn, das Gift im Blut von Verstorbenen und Kranken nachzuweisen?

Dank meiner italienischen Kollegen Tartaglia und Prof. Dr. Rita Ćeli vom Turiner Institut für Nanotechnologie senden wir die Biopsieergebnisse aus den Krankenakten, sowohl von lebenden Patienten als auch von Versorbenen, an das genannte Referenzlabor in Turin. Bisher haben wir zwei solcher Analysen durchgeführt und erschreckende Ergebnisse erhalten. Sowohl bei dem verstorbenen Dragan Stojčić als auch bei Frau Ksenija Tadić (die gegenüber dem bombardierten Generalstab lebt und deren Eltern beide an schweren Formen von Lungen- und Hirnkrebs starben) war das abgereicherte Uran mehr als 500 Mal höher als das "erlaubte" Niveau, und im Blut fanden sie bis zu 21 Schwermetalle, die alle lebens- und gesundheitsgefährdend sind. Wir haben bereits Klagen für sie vor dem Obersten Gericht in Belgrad eingereicht.

Offensichtlich steht Ihnen ein mühsamer und langwieriger Beweisprozess bevor. Wie viele Menschen haben sich bisher an Ihr Büro gewandt, um Hilfe zu erhalten?

Bisher hat meine Anwaltskanzlei 3.500 unterschriebene Vollmachten für Klagen bezüglich Entschädigung in Krebsfällen nach der NATO-Aggression gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Jahr 1999 erhalten und registriert. Die erste Klage wurde am 21. Januar 2020 im Namen von Oberst Dragan Stojčić eingereicht, der an Krebs erkrankt war, nachdem er 280 Tage in der mit abgereicherten Uranbomben bombardierten terrestrischen Sicherheitszone verbracht hatte. Er verstarb in der Zwischenzeit. Sein Fall wurde an den NATO-Pakt verwiesen, der bei der gleichen Gelegenheit Immunität beanspruchte, weil er keine Beweise habe, um sich vor Gericht zu verteidigen. Doch die NATO hat keine Immunität, weil sie 2006 mit Serbien ein Abkommen über die freie Durchfahrt von Soldaten und Fahrzeugen unterzeichnet hat, das nicht rückwirkend gilt. Daher muss die NATO Schadenersatz für das Kriegsverbrechen zahlen. Der niedrigste Entschädigungsanspruch beträgt 100.000 Euro, die Höhe steigert sich mit der Zahl der Familienangehörigen. In Italien erhielten Familien zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Euro zugunsten verstorbener und kranker Mitglieder, Soldaten und Offiziere.

Aber wie werden Sie mit der Gruppe rund um den NATO-Pakt umgehen, die Ihnen offiziell sagt, dass sie geschützt ist und daher keine Verpflichtung gegenüber der Opfer hat?

Der NATO-Pakt ist eine Organisation mit Sitz in Brüssel und dem Status einer juristischen Person. Wir haben die Bestätigung, dass diese Organisation die Klage erhalten und eine Erklärung dazu abgegeben hat, und das Gericht kommuniziert mit ihrem Büro. Gemäß des Urteils werden wir, wenn es rechtskräftig und vollstreckbar ist, das Wiener Schadenersatzübereinkommen aus dem NATO-Pakt anwenden, das in Brüssel vollzogen werden soll. Bei rechtlichen Problemen werden wir uns an das Gericht in Straßburg wenden, da es sich um eine Verletzung des Rechts auf Leben handelt, das das erste und grundlegende Recht ist, das von der Menschenrechtskonvention geschützt wird, und das Recht auf Leben ist durch unsere Verfassung garantiert. Neben der Gefährdung von Menschenleben durch Bomben mit abgereichertem Uran hat die NATO auch einen Ökozid an der Natur begangen, weil sie Land, Wasser und Luft verseucht hat, und dafür muss sie verantwortlich sein und Entschädigung zahlen.

Trotz des tragischen Ergebnisses der Bombardierung Serbiens mit abgereichertem Uran kündigen die Briten offiziell an, dass London auch panzerbrechende Granaten mit abgereichertem Uran in die Ukraine schicken wird! Bestätigt dies, dass auch das Völkerrecht „tot“ ist?

Es wäre überhaupt nicht gut, wenn Londons Drohung wahr würde, denn ich habe die Erklärung des ukrainischen Präsidenten Aleksandar Lukaschenko gehört, der sagte: "Wer auch immer uns abgereichertes Uran schickt, wird von uns abgereichertes Uran erhalten", und Kadyrows Antwort "wir zeigen dem Westen die Folgen der Uranverschmutzung auf ihren eigenen Territorien". Ich befürchte, dass der Wahnsinn der westlichen Zivilisation an seine Grenzen gestoßen ist und dass eine solche Entscheidung den Anfang seines Endes bedeuten würde, und deshalb wäre es notwendig, dass die Vereinten Nationen ein Dokument verabschieden, das den Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran verbietet. Denn abgereichertes Uran mit einer Zerfallszeit von 4,5 Milliarden Jahren trifft die Zivilbevölkerung am stärksten. Der Vorschlag vieler Länder vor den Vereinten Nationen lautet, seine Verwendung zu verbieten, weil jeder weiß, welche Folgen es in Serbien, Bosnien und Herzegowina, Libyen, Irak und Afghanistan hinterlassen hat.

In diesen Tagen fand an der Fakultät für Sicherheit in Belgrad die Promotion Ihres neuen Buches mit dem Titel "Projektili pravde"("Wahrheitsraketen") statt.

Ja, dieses Buch weist nicht nur auf die Schwere des Problems und das Ausmaß unserer Tragödie durch die NATO-Aggression hin, sondern hat auch eine sehr praktische Anwendung, da es voller Daten über alle meine Bemühungen ist, Gerechtigkeit für die Opfer von abgereicherter Uran-Munition zu erreichen und für ihre Familien, weil es alle Beweise enthält, die Reaktion des NATO-Pakts, die Ergebnisse des Instituts für Nanotechnologie aus Turin, italienische Letzturteile und alles andere, was uns die Zuversicht gibt, dass Gerechtigkeit erreichbar ist, wenn auch langsam. Denn in allen Details haben wir die Italiener in den Gerichtsverfahren begleitet, genauer gesagt, wir haben als Anwalt Angelo Fiore Tartaglia angeführt, der bisher 350 rechtskräftige Urteile errungen hat. Zwar gelang es ihm, weitaus größere Entschädigungsforderungen durchzusetzen, aber auch daran beteiligt sich der italienische Staat als Mitglied des NATO-Bündnisses. Ich sehe nicht, dass ihr Leben oder das Leben anderer Menschen mehr wert ist als das Leben unserer verstorbenen Serben, und ich erwarte, dass der serbische Staat uns in unseren Fällen unterstützt. 

Sie reisen Sie nach Wien, wo Sie vor der serbischen Diaspora über Ihre Arbeit und Ihr Buch sprechen werden. Wie schätzen Sie die Chance ein, dass die Bürger Europas im Interesse einer gemeinsamen Zukunft von unseren Erfahrungen aus der NATO-Aggression profitieren können?

Ja, ich fühle mich geehrt durch die Einladung der serbischen Organisation "Prosveta", die mir die Ehre erwiesen und mir die Gelegenheit gegeben hat, in einer sehr wichtigen Stadt für die serbische Geschichte, Wien, zu sein, wo die serbische Diaspora eine der zahlreichsten ist und sicherlich der österreichischen Kultur am treuesten, und vor dem freundlichen österreichischen Volk, dessen Land in Bezug auf die Blockallianzen neutral ist, präsentiere ich die verheerenden Tatsachen der NATO-Aggression auf die Bundesrepublik Jugoslawien und lege dar, dass die Wirkung von abgereichertem Uran nicht durch Grenzen aufgehalten werden kann. Reine Wissenschaft funktioniert! Deshalb werde ich ausschließlich über die Folgen von Krebs durch abgereichertes Uran sprechen.  

Und Fakten töten, nicht wahr?

Die NATO begann ihre Aggression gegen Jugoslawien am 24. März 1999 und zielte beim ersten Angriff auf mehr als 20 Objekte ab. Die ersten Raketen fielen um 19:53 Uhr auf die Kaserne in Prokuplje, gefolgt von Angriffen auf Pristina, Kuršumlija und Batajnica. Neunzehn NATO-Staaten begannen von Schiffen in der Adria aus zu bombardieren, ebenso vier Luftwaffenstützpunkte in Italien.Die ersten Ziele waren die Luftverteidigung und andere Einrichtungen der jugoslawischen Armee. Nach Angaben des serbischen Verteidigungsministeriums wurden bei der Nato-Aggression 2.500 Zivilisten getötet, darunter 89 Kinder und 1.031 Armee- und Polizeiangehörige. Etwa 6.000 Zivilisten wurden verwundet, davon 2.700 Kinder, sowie 5.173 Soldaten und Polizisten, und 25 Personen wurden vermisst.

Experten schätzen, dass bis zum 10. Juni, als die Bombardierung aufhörte, 18.168 Luftstarts aufgezeichnet wurden, während die NATO von 38.004 Einsätzen spricht, von denen 10.484 Feueraktionen waren. Anfangs waren es täglich bis zu 70 Kampfflugzeuge, später bis zu 400.

Die NATO bestritt die von serbischer Seite angeführten Verluste an Arbeitskräften und Ausrüstung, und die Russen gaben bekannt, dass die NATO mehr als 400 Soldaten und 60 Flugzeuge verloren habe, darunter die berühmte F-17, die als "unsichtbar" bezeichnet und in der Nähe von Buđanova abgeschossen wurde.

Es gibt fast keine Stadt in Serbien, die von der NATO angegriffen wurde, die insgesamt 2.300 Angriffe durchgeführt und 22.000 Tonnen Raketen abgeworfen hat, darunter 37.000 verbotene Streubomben.

Bei der Aggression wurden Infrastruktur, wirtschaftliche Einrichtungen, Schulen, Gesundheitseinrichtungen, Medienhäuser und Kulturdenkmäler zerstört. 25.000 Wohngebäude, 470 Kilometer Straßen, 595 Kilometer Eisenbahnen, 19 Krankenhäuser, 20 Gesundheitszentren, 18 Kindergärten, 69 Schulen, 176 Kulturdenkmäler und 44 Brücken wurden zerstört und beschädigt, während 38 zerstört wurden.

Experten schätzen den gesamten Sachschaden auf 100 Milliarden Dollar.

Bei der Aggression gegen Serbien setzte die NATO erstmals Graphitbomben ein, um das Energiesystem lahmzulegen, und bombardierte auch die chinesische Botschaft in Belgrad, als 18 Menschen starben.

Was streben Sie mit der von Ihnen geplanten Anhörung im Europäischen Parlament an?

In Serbien gibt es immer noch Bomben, die nach der NATO-Aggression im Land nicht explodiert sind, aber ihre Entfernung erfordert spezielle Technik. Die NATO könnte uns dabei helfen, will sie aber nicht, obwohl sie durch die Vernichtung zahlreicher Exemplare extrem seltener Tier- und Pflanzenarten einen Ökozid ungeahnten Ausmaßes verursacht hat. Aufgrund all dessen muss sich das serbische Volk an das Europäische Parlament wenden, um künftig solche oder ähnliche Tragödien zu verhindern, die zur biologischen Ausrottung einer kleinen, aber historisch großen Nation beitragen können.



Weitere Artikel, die Sie interessieren könnten