Polarisierender US-Außenminister

Kissinger ist tot: US-Drahtzieher zwischen Kriegstreiberei, Scheinmoral & Diplomatie

Welt
Bild: Kasa Fue, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Über Tote soll man bekanntlich nichts Schlechtes sagen. Doch wie handhabt man es bei einem umstrittenen Staatsmann, der an verschiedenen Stationen seines Lebens zuerst Leid erfuhr, dann Leid verursachte, um am Ende seines Lebens im Methusalem-Alter noch einmal für ein Ende des Leids zu plädieren? Fakt ist: Mit Ex-US-Außenminister Henry Kissinger (100) geht ein einflussreicher Denker und Politiker, welcher der Welt lehrte, dass intelligente Männer an den Schalthebeln der Macht zugleich brilliant & gefährlich sein können.

Aus Mittelfranken zur Weltpolizei

Als Heinz Alfred Kissinger im Krisenjahr 1923 in eine mittelständische jüdische Familie im fränkischen Fürth geboren wurde, ahnten noch wenige, welche epochale Duftmarke er hinterlassen würde. In der Jugend spielte er Fußball bei der SpVgg Fürth, deren Fan er zeitlebens blieb, ab 1938 emigrierte seine Familie über Großbritannien in die USA, deren Staatsbürger er 1943 wurde, um anschließend als junger Soldat gegen sein Geburtsland zu kämpfen und später an der "Entnazifizierung" mitzuwirken. Es folgte ein Politologie-Studium in Harvard - und über einen Gouverneur aus dem Rockefeller-Clan der Aufstieg in die Beraterzirkel mehrerer US-Präsidenten beider Parteien. 

Seine große Stunde sollte noch schlagen: Ab 1969 war außenpolitischer Berater des Weißen Hauses, ab 1973 Außenminister. Mit diplomatischen Finten half er bei der Begründung der USA als "Weltpolizist". Wenn es Washington etwas brachte, bastelte er im Geheimen am Frieden und heimste einen umstrittenen Nobelpreis dafür ein. Ein andermal wollte er Moskau und Peking gegeneinander ausspielen. Und wenn sonst nichts half, bombte man fremden Völkern eben "Freiheit und Demokratie" ein. Es ging auf auf die Kappe Kissingers, dass im Vietnamkrieg das Nachbarland Kambodscha völkerrechtswidrig mit 2,7 Mio. Bomben angegriffen wurde. Der Blutzoll: 500.000 zivile Opfer. 

Festigung der globalen US-Hegemonie

Er begründete jene US-Außenpolitik, die seiner Amtsnachfolgern Madeleine Albright Kritik einbrachte, als sie den Hungertod hunderttausender irakischen Kindern rechtfertigte. Er unterstützte bzw. billigte den indonesischen Einmarsch in Ost-Timor und half beim US-Regimechange in Chile, als man den gewählten Präsidenten durch eine US-Marionette ersetzte. Im Nahost-Konflikt setzte er hingegen auf Entspannung zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn. Nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik übernahm er für vier Jahre die Leitung der einflussreichen, transatlantischen Denkfabrik "Council on Foreign Relations" (CFR). 

Aus dieser Zeit stammt auch einer seiner berühmtesten Sätze: "Globalisierung ist nur ein anderes Wort für US-Herrschaft." Und er zweifelte die Rechtmäßigkeit dieses Anspruchs nicht an. Nachdem er stark gegen den Ostblock agitiert hatte, erhoffte er sich auch unter Präsident Reagan einigen Einfluss; obwohl er offiziell im Beraterstab saß, blieb sein Einfluss aber gering. Also machte er Außenpolitik zum Geschäft: Er gründete die Denkfabrik "Kissinger Associates", große Banken und Konzerne wurden zu seinen Kunden. Er lieferte ihnen Analysen zu den Konfliktpotenzialen diverser Länder, die sie als Markt gewinnen wollten. 

Netzwerker wusste sich zu verkaufen

Der sozialpatriotische Politikwissenschaftler Benedikt Kaiser schreibt in der "Sezession" über diese Epoche in Kissingers Leben mit Augenzwinkern: "Erst jetzt wurde aus dem weltmännischen Staatsmann auch ein reicher weltmännischer Staatsmann, wenngleich eher auf privater Mission." Er verweist in der Folge auch auf die Worte des Kissinger-Biographen Bernd Greiner: "Als Spin-Doktor in eigener Sache fährt er die größten Gewinne ein. Genauer gesagt, als Netzwerker und Verpackungskünstler, der überall zuhause ist, weil er unterschiedliche Interessen mit großer Flexibilität bedienen kann." Zwischendurch schrieb Kissinger etliche Bücher über Außenpolitik.

Flexible Interessen, aber stets nach dem Maßstab der USA als globale Hegemonialmacht, und die Pflege einflussreicher Netzwerke, um seine Gedankengänge zu deponieren: Das war die große Kunst von Kissinger. CDU-geführten deutschen Koalitionen diente er sich gerne zur Stärkung der transatlantischen Beziehungen an, davon zeugt eine Stiftungsprofessur in Bonn. Und es machte seine Stimme für all die großen globalistischen Zusammenkünfte interessant. Dem CFR blieb er zeitlebens verbunden, er nahm an etlichen Bilderberger-Konferenzen teil - und auch beim Weltwirtschaftsforum (WEF) von "Great Reset"-Architekt Klaus Schwab wurde er als Gast hofiert.

Laut kritischen Beobachtern waren Kissinger & die CIA allerdings bereits bei der Schaffung der Globalisten-Denkfabrik zentral involviert:

Diplomatische Lösung in der Ukraine

Dort sollte er im Vorjahr dann einen vielbeachteten Auftritt feiern: Denn der "Urgroßvater der Kriegstreiberei" des Werte-Westens scherte plötzlich aus dem Konsens beim Globalisten-Treff aus und war dort eine einsame Stimme der Vernunft. Damals, im Mai 2022, war er eine der ersten einflussreichen Figuren, die für eine diplomatische Einigung plädierten. Diese hätte den faktischen Stand vor dem Krieg wiederhergestellt: Russland hätte Cherson & Saporoschje geräumt, dafür die Kontrolle über den Donbass und die Krim beibehalten. Selenski sperrte sich entrüstet dagegen, verglich Kissinger mit Hitler und wollte lieber totalen Krieg und totalen Sieg - egal, wie aussichtslos.

Mittlerweile zeigt die Realität des Krieges, dass die Ziele der Ukraine illusorisch sind. Zigtausende tote Soldaten und Zivilisten sind zu beklagen, selbst schwere westliche Waffen ändern aber wenig am Frontverlauf, die "große Gegenoffensive" war ein Rohrkrepierer. Eine diplomatische Lösung wird immer häufiger ins Gespräch gebracht; im Vorjahr scheiterte diese nach Aussagen eines Selenski-Vertrauten zudem auch am westlichen Veto. Kissinger selbst fiel in den folgenden Monaten wiederum mit positioneller Flexibilität auf: Mal bezeichnete er die NATO-Osterweiterung als unweise, ein andermal plädierte er dann sogar für eine ukrainische NATO-Mitgliedschaft...

Deutsche Politik biedert sich postum an

Was von Kissinger bleibt, ist nicht eindimensional. Auf der einen Seite stehen jene, die ihn für eine schauderbare Gestalt der Weltgeschichte halten. So sagte sein einstiger Weggefährte Roger Morris einst über ihn: "Wenn wir Henry Kissinger nach den gleichen Maßstäben beurteilen, wie wir es mit den anderen Staatschefs und Politikern in anderen Gesellschaften getan haben [...] dann wird er sicher irgendwann als Kriegsverbrecher verurteilt werden." Andere Stimme verteidigten ihn hingegen insofern, dass sich seine Haltung zur Tolerierung von Kriegsverbrechen, wenn sie der richtigen Seite dienten, nicht von der Haltung anderer US-Außenpolitiker unterschied.

Auf der anderen Seite bleibt ein intelligenter Mann, der auch seinen Kritikern ein großes gedankliches Vermächtnis hinterlässt. Nun ist er im zarten Alter von 100 Jahren dahingefahren. Und egal, wie man ihn bewertet: Seine Duftnote hat er mehr als deutlich hinterlassen. Deutlich genug, damit sich Polit-Darsteller von geringerem Format darin sonnen wollen. So etwa der aktuelle bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der ihm einen "großen analytischen Scharfsinn" zubilligte und ihn als Franke natürlich sofort für sich und den Freistaat beanspruchte: Ganz Bayern würde angeblich um seinen (verlorenen und vertriebenen) Sohn trauern.

Oder auch SPD-Kanzler Olaf Scholz, der geradezu wehmütig schrieb: "Sein Einsatz für die transatlantische Freundschaft zwischen den USA und Deutschland war bedeutend." Die Welt verliere in ihm einen "besonderen Diplomaten".

Diese anbiedernde Haltung in der Kondolenz brachte Scholz auch scharfen Spott aus dem kritischen Lager ein:

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