Nachbetrachtung zum Mauerfall-Jubiläum: 'Reißt nieder, was uns trennt!'
Vor 34 Jahren fiel am 9.11.1989 die Mauer, die seit dem 13. August 1961 Brüder, Schwestern, Eltern und Kinder auseinandergerissen hatte. 28 Jahre lang konnten sich Familien nicht mehr treffen und eine gemeinsame Geschichte gestalten. Unzählige Menschen nahmen große Opfer auf sich, um die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland zu überwinden. Manche starben dabei oder wurden von ihren eigenen Landsleuten erschossen.
Ein Gastbeitrag von Maria Schneider - zuerst erschienen auf beischneider.net
Gewidmet Biggi, Siggi, Dirk, Bernhard und all den anderen wunderbaren Menschen aus der Ex-DDR, die ich kennenlernen durfte.
Ich kann mich noch genau an den 9. November erinnern. Ich wohnte damals in einer Studenten-WG. Die Räume ließen sich nur mit einem Kohleofen heizen und für die Notdurft mußte man die Wohnung verlassen, über den Hof gehen und dann in der Scheune hinter einem Bretterverschlag in eisiger Kälte das Wasserklosett aufsuchen. Wenn man nicht aufpaßte, fror einem fast der Hintern fest.
Als arme Studentin, die von ihrer neidischen Hippiemutter keinen Pfennig Unterstützung bekam, weil diese kein Abitur hatte machen dürfen, finanzierte ich mir mein Leben durch mehrere Jobs gleichzeitig und hatte mir von meinem Verdienst einen kleinen, roten Schwarz-Weiß-Fernseher gekauft. Meine Mitbewohnerin nutzte ihn gerade und rief mich aufgeregt zu sich in’s Zimmer: „Die Mauer ist gefallen!“ Fasziniert schauten wir uns die Bilder von überglücklichen, ja euphorischen Menschen an, die jubelnd vor, hinter und auf der Mauer standen. Die endlosen Menschenkolonnen aus dem Osten wurden überschwänglich im Spalier begrüßt. Man überstürzte sich darin, sich gegenseitig einzuladen und sich wiederzuvereinen. Man kam sich vor wie in einem riesigen Familienfest.
Es fing alles so gut an – wahrlich wie ein Märchen. Berlin wurde ein vibrierendes Zentrum des Aufbruchs, der Kreativität und der Offenheit. Schon bald jedoch wurde die Stimmung getrübt. Die Treuhand plünderte unsere Brüder, Schwestern und Cousinen aus und behandelte sie wie eine Kolonie. Strohdumme Westdeutsche schwangen sich als Besserwisser auf. Ostdeutsche – geprägt von Jahrzehnten des Mangels – suchten überall ihren Vorteil. Unmerklich wich die Aufbruchstimmung der Ernüchterung und unmerklich sickerten Unverständnis, Verachtung und Enttäuschung in die brüchigen Mauern ein. Heute kann man sich kaum mehr vorstellen, wie glücklich die Menschen damals waren.
Stattdessen leiden die Deutschen sogar bis heute unter der Ost-West-Trennung. Die Mauer in den Köpfen ist noch lange nicht weg. Fast meint man, sie würde mit jedem Umfragehoch, das die AfD in den östlichen Bundesländern erzielt, umso eifriger Stein um Stein wieder errichtet werden. Die DDR-Zeit, die gegenseitige Bespitzelung, das Belauern, das Denunzieren, wurden noch lange nicht aufgearbeitet. Bis heute sitzt das gegenseitige Misstrauen in den Mauerritzen. Besserwessis verachten bis heute ihre Ostverwandten und missgönnen ihnen den Soli, den die Ostdeutschen doch genauso mitbezahlen müssen. Tatsächlich scheinen die DDR und ihre Machtstrukturen eine unrühmliche Wiederkehr mit Gesetzen wie der „Delegitimierung des Staates“ oder den zahlreichen Melde- und Petzportalen zu feiern, die es den Sittenwächtern und der Sprachpolizei leichter denn je machen, unliebsame Konkurrenz, unsympathische Nachbarn oder Fremde, die ein schöneres Lastenrad als sie fahren, anonym zu melden und auf Knopfdruck ihre Existenz zu zerstören. Wer braucht da noch Gefängnis, Folter oder Scheiterhaufen, wie dies noch in der Inquisition üblich war? Viel zu viel Aufwand – Rache und hinterhältige Bereicherungen sind heute viel billiger zu haben.
Nie wieder Sozialismus!
Die Macht der Dummen, der Dreisten, der Mißgünstigen kennt heute keine Grenzen mehr. Dabei könnten die Dinge ganz anders sein. Noch immer gäbe es reichlich Grund zur Freude und man könnte viele Lehren aus der kurzen, sozialistischen Geschichte der DDR ziehen. Der real existierende Sozialismus hat eben nicht funktioniert und wird es auch nicht in der BRD mit dem real aufgezwungenen Kommunismus, unter dem das Volk zunehmend ächzt. Heute sollte ein Freudentag sein. Deutsche Fahnen sollten aus den Fenstern wehen. Es sollte Lesungen, Konferenzen und Theaterstücke dazu geben, wie es denn war, unter der sozialistischen Knute zu leben. Stasiakten sollten geöffnet und öffentlich als abschreckendes Beispiel diskutiert werden. Das Fazit sollte lauten: „Nie wieder Sozialismus!“
Wenn ich jedoch aus dem Fenster blicke, so sehe ich nur einen grauen Himmel. Es regnet. Die alten, gebeugten Restdeutschen schlurfen dahin. In meinem Stammcafé saßen zwei gepflegte Ukrainerinnen neben mir. Sie tranken mit meinem Steuergeld Kaffee und unterhielten sich so laut, als gehöre das Café bereits ihnen. In meinem Dorf hängen überall Plakate über den fortdauernden Antisemitismus der Deutschen. Etliche Mitturnerinnen in meinem Verein kommen heute Abend später, weil sie vorher eine Gedenkstunde wegen eines Ereignisses am selben Tag vor über 80 (!) Jahren abhalten. Ich halte mir den Kopf und will laut schreiben.
Reißt nieder, was uns trennt!
Es wird Abend. Der Himmel färbt sich rot. „Sorge Dich nicht um morgen. Der morgige Tag wird für sich selber sorgen“, kommt mir in den Sinn. Nein, ich werde mich nicht hinabziehen lassen in das Tal der Schuld und der Buße. Ich denke an den Tag vor 34 Jahren, als unsere Cousins und Cousinen in Ostdeutschland wieder mit uns vereint wurden. Es kam zusammen, was zusammengehört. Darauf kommt es an. Diese Gemeinschaft sollten wir pflegen und uns den Mut unserer Landsleute zum Vorbild nehmen, die damals ein Regime stürzten und auch heute auf dem besten Wege sind, es wieder zu tun. Das sind Wiederholungstäter, die ich liebe!
In diesem Sinne – ich wünsche allen Leserinnen und Lesern – und zur Feier des Tages ausnahmsweise auch den restlichen 68 Geschlechtern – einen wunderbaren Abend im Geiste des Mauerfalls. Reißt nieder, was uns trennt und schließt endlich Frieden mit unseren Brüdern und Schwestern im Osten!
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