Die EU zwischen Ukraine und Israel – höchste Zeit für einen Kurswechsel!
Krieg in Ost-Nah-Ost. Die Europäische Außenpolitik sollte sich an Werten orientieren. Derzeit erscheint sie allerdings eher desorientiert und wertlos. Das hat mit der Weltlage zu tun, ist aber auch dem strategischen und moralischen Vakuum in westlichen Politikerköpfen geschuldet.
Ein Gastbeitrag von Dr. Thomas E. Henökl, Ph.D., MMM.A. | Associate Professor of Public Policy and Administration
Ernüchtert – wenn auch nicht überrascht – durch die Berichte von der Ostfront verfestigt sich der Eindruck, dass die EU, die im Übrigen nicht nur in dieser Frage zusehends an Rückhalt in der Bevölkerung verliert (siehe Slowakei, Österreich, Deutschland - und seit den Wahlen nun auch die Niederlande), mit ihrer Ukraine-Politik komplett auf dem Holzweg ist. Tatsächlich ist die derzeitige Linie des europäischen Kadavergehorsams den USA gegenüber, den Krieg gegen Russland bis zum bitteren Ende führen zu wollen, desaströs, vor allem, weil sie keine ehrliche Diskussion zulässt und keine Exit-Strategie vorzuweisen hat. Ähnliches gilt für Israels blutige Kampagne in Gaza und im Westjordanland. Realistisch betrachtet ist sowohl Russland als auch der Hamas militärisch nicht beizukommen, und der Preis gemessen in menschlichem Leid für diese Fehleinschätzungen ist himmelschreiend.
Sinnlose(s) Schlachten hier wie dort
Für die Ukraine räumen dies mittlerweile auch westlich-idealistisch motivierte Sicherheitsexperten und Militärstrategen ein. Fakt ist auch, die USA blockieren dort seit März 2022 jeden Versuch einer diplomatischen Lösung. Radikale Republikaner (Lindsey Graham, Mitch McConnell, Nikky Haley) agitieren bereits seit Jahren - und verstärkt seit dem US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 - gegen Russland. Sie nutzen dabei jede Gelegenheit für eine aggressive Politik der Erpressung im Interesse der USA und für nahezu unverhohlenes Lobbying zugunsten der US-Waffenindustrie. Die Architekten dieser Politik, wie etwa Vize-Außenministerin Victoria "fuck the EU" Nuland, gehen dafür, ohne mit der Wimper zu zucken, über Leichenberge.
Die Ukraine ist letztlich das Bauernopfer, und der blutige Stellvertreterkrieg „das beste Investment, um Russland entscheidend zu schwächen", wie es Graham und andere US-Politiker ganz offen gesagt haben. Und die Europäischen Verbündeten machen vorgeblich aus Idealismus und, „um die Freiheit Europas zu verteidigen“, (wie schon in Irak und Afghanistan) brav den Handlanger - und zahlen, wie immer, hernach die Zeche. In blinder Verzweiflung verdoppelt Deutschland nun seine Waffenhilfe für die Ukraine auf atemberaubende 8 Mrd. Euro für das Jahr 2024 (wenn diese Zusage nicht doch noch dem finanzpolitischen Chaos der Ampel Regierung zum Opfer fällt). Dabei droht ein Szenario, in dem Amerika seine Kräfte bereits sehr bald in Nahost brauchen wird, und, sollte ein Trump die nächsten US-Wahlen gewinnen, stehen wir mit dem Schlamassel allein auf weiter Flur - gegen den Rest der Welt. Idealismus kann in den Internationalen Beziehungen ein unverzeihlicher Irrtum sein, zumal wenn mindestens einer der Akteure ein Nullsummenspiel betreibt, so wie Russland dies wohl zu tun bereit ist. Und dass Amerika seine nationalen Interessen über alles andere stellt, dürfte sich mittlerweile doch auch bei den Europäischen Vasallen, ähem … Freunden!, herumgesprochen haben.
Kein gutes Haar in dieser Suppe
Ja, wir erleben turbulente Zeiten, die Besonnenheit, intensives Nachdenken und eine ideologiefreie Debatte erfordern würden. Die „geopolitische“ Von der Leyen-Kommission hat davon allerdings kaum etwas erkennen lassen. Man mag darüber uneins sein, aber Ursula von der Leyen rittert mittlerweile tapfer mit Jacques Santer um den ersten Platz im Ranking der schlechtesten aller EU-Kommissionen, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Mitteln. Es ist eigentlich so ziemlich alles schiefgelaufen am Brüsseler Ponyhof, von der Pfizer-Impfstoff-Causa und den Covid-Inflationsbeheizungsmassnahmen bis hin zu Migrationsfiasko und Green-Wash Deal. Und während die EU sich vom Friedensprojekt in eine NATO-Filiale verwandelt, tappt der Hohe Außenbeauftragte „it’s a jungle out there“ Borrell so verlässlich wie unverdrossen von einem Fettnäpfchen zum anderen.
Genocide bodycount. „Finish them, finish them! Kill them all“
Und, weil es eben auch sehr gut in dieses Bild passt, ein Wort zur Reaktion der EU auf die Eskalation in Nahost, die mit allergrößter Treffsicherheit wieder einmal ziemlich daneben ging: Die Israelische Regierung wird mit Rückendeckung der USA ohnehin machen, was sie will - und jetzt, nach dem verheerenden Hamas-Angriff, den das MISGAV Institute, ein Netanyahu nahestehender Think Tank in einem geleakten Geheimpapier als „einmalige Gelegenheit für die Säuberung des Gazastreifens“ bezeichnet, tut sie dies ausgestattet mit dem Killer-Argument der uneingeschränkten Selbstverteidigung. Aber, dass die EU-Kommissionspräsidentin, Deutschland, Österreich, Tschechien und Ungarn (in durchaus unerwarteter Einigkeit) dem offenbaren Anti-Demokraten Netanyahu bedingungslos eine carte blanche ("unconditional support" wie die unerschrockene Deutsche Außenministerin Baerbock gerne vor TV-Kameras wiederholt) für sein Projekt der Gaza-Einverleibung durch Israel, ausstellten, ist ein fataler Fehler und spaltet auch die EU-Mitgliedstaaten. Europa sollte - bei allem Respekt und Verständnis für Israels grauenhaftes Trauma - jedenfalls eine sofortige Waffenruhe und Friedensverhandlungen fordern. Aber jeder, der hier versucht, moderierend zu wirken oder auf humanitäres Völkerrecht und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit hinzuweisen, wird sofort als Antisemit und Terror-Kollaborateur gebrandmarkt - so wie es unlängst auch UN-Generalsekretär Guterres erging. Dies zeigt: niemand ist mehr sicher davor, von den Schergen des dominanten Diskurses an den Polit-Pranger gestellt zu werden, wenn man sich, wie es in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft eigentlich üblich sein sollte, zu wichtigen Themen die richtigen Fragen zu stellen wagt.
Deutschland, Land der Denkverbote?
Wir sollten uns nicht länger vor den hoffnungslos festgefahrenen Karren von unredlichen und skrupellosen Akteuren spannen lassen. Gerade in der Diskussion um eine angemessene Reaktion auf den Konflikt in Nahost wird geschichts- und identitätspolitischer Missbrauch getrieben, und wir werden allzu leicht von einer durchaus unverschämten und gerne auch übergriffigen Zionistischen Lobby in Geiselhaft genommen. Den Blutzoll für unsere ahistorische Verblendung zahlen gerade wieder einmal unschuldige Zivilisten im Gazastreifen und Westjordanland, die seit 1948 unter dem Joch des Israelischen Apartheitsstaates leiden.
Deutschland hat sich unter der äußerst ungeschickten Führung der (H)Ampel-Regierung in diesem Zusammenhang besonders exponiert. Olaf Scholz schweigt beharrlich, nicht nur zu den Patzern der Außen- wie auch der Innenministerin – beide sind als Regierungsmitglieder längst nicht mehr tragbar (wenn sie es überhaupt je waren). Er schweigt auch ohrenbetäubend zur katastrophalen wirtschaftlichen Lage der Republik. Anstatt sich konstruktiver Kritik inhaltlich auseinanderzusetzen, soll Meinungsterror jede Gegenstimme ersticken. Wenn er etwas sagt, dann ist es zumeist Unsinn, wie etwa: "Israel ist eine Demokratie und ein Land, das sich den Menschenrechten und dem Völkerrecht verpflichtet fühlt und auch entsprechend handelt. Deswegen sind die Vorwürfe gegen Israel absurd." An diesem Statement ist eigentlich so gut wie nichts Wahres dran. Finde nur ich dies alles höchst bedenklich?
Inzwischen wird hierzulande "Vom Fluss bis zum Meer" als Aufruf zum Genozid unter Strafe gestellt, während man einen echten Völkermord, wie Israels blutrünstiges Vorgehen im Gazastreifen von führenden Experten auf diesem Gebiet klar und sogar exemplarisch eingeordnet wird, nicht als solchen bezeichnen darf.
Läuft in Deutschland!
(Von Österreich will ich hier lieber gar nicht erst anfangen. De tu, infelix Austria, tacimur!)
Zur Person
Dr. Thomas Henökl ist außerordentlicher Professor für Public Policy an der University of Agder (UiA), Kristiansand (Norwegen), sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik, Bonn (www.die-gdi.de). Zuvor verteidigte Thomas seinen Doktortitel mit dem Titel "Inside the External Action Service: Unpacking the EU foreign policy bureaucracy" (2014) an der UiA, wo er nun in Forschung, Lehre und Politikberatung tätig ist und sich auf die Bereiche EU-Außen- und Sicherheitspolitik, internationale Hilfe und Entwicklung sowie auf vergleichende Politik und Organisationstheorie, europäische öffentliche Politik und Verwaltung spezialisiert hat. In jüngster Zeit sind seine wissenschaftlichen Arbeiten im Journal of European Public Policy, West European Politics, Journal of European Integration und European Foreign Affairs Review erschienen. Zuvor arbeitete er für die Europäische Kommission (GD Relex und später den Europäischen Auswärtigen Dienst), das Europäische Institut für öffentliche Verwaltung (EIPA) und die EU-Delegation in Japan. Thomas Henökl hat einen Master-Abschluss in Politikwissenschaft, europäischer öffentlicher Politik und öffentlicher Verwaltung von der Universität Innsbruck (AT), dem Institut d'Etudes Politiques (Sciences-po), Paris und der Graduate School of Public Administration an der International Christian University, Tokio, wo er 2004 eine MA-Arbeit über das Asien-Europa-Treffen (ASEM) schrieb.
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