Auf dem Rücken der Betroffenen

Wegen Kritik nach Erdbeben: Erdogan zensiert & sperrt soziale Medien

Welt
Hintergrund: Freepik (2); Erdogan: kremlin.ru, Wikimedia Commons, CC BY 4.0 (freigestellt); Komposition: Der Status.

Nach dem verheerenden Erdbeben im vor allem von Kurden besiedelten Grenzgebiet zu Syrien, scheint die humanitäre Hilfe nicht die oberste Priorität des Erdogan-Regimes zu sein. Vielmehr sorgt sich der langjährige Machthaber der Türkei offenbar darum, dass bloß keine falschen Narrative aufkommen. Und so lässt er die sozialen Medien rigoros zensieren. Mittlerweile werden sogar massive Störungen bei deren Abrufbarkeit im 84-Millionen-Einwohner-Staat gemeldet.

Verhaftungen und Social-Media-Sperre

Wie türkischsprachige Medien berichten, ergriff der Staat nach dem Erdbeben gelinde gesagt "interessante" Maßnahmen. Direkt nach dem Erdbeben, bei dem wohl mindestens 16.500 Menschen ums Leben kamen, ließ die türkische Führung zahlreiche Social-Media-Konten einer Schnellkontrolle unterziehen. Bei 202 Konten wurde am Folgetag eine weitergehende Untersuchung eingeleitet. Insgesamt kam es zu 18 Festnahmen, fünf 5 Personen befinden sich noch in Gewahrsam. Diese hätten "provokative Beiträge" im Bezug auf das Erdbeben geschrieben. Unter den Betroffenen sollen sich auch Journalisten und Politologen befinden. Weiters wurden mehrere private Spendenkonten gesperrt.

Seit dem gestrigen Mittwochabend haben türkische Nutzer nun Schwierigkeiten auf soziale Netze wie Twitter, TikTok oder Instagram zuzugreifen, wie türkischsprachige Medien berichten. Auch "NetBlocks" konnte die Twitter-Sperre bestätigen. Die Daten sollen belegen, dass der Kurznachrichten-Dienst insbesondere für Nutzer der zwei großen Anbieter TTNet und Turkcell eingeschränkt wurde. Informierte Kreise bestätigen gegenüber Der Status, dass die Erdogan-Regierung dies teilweise mit einer Verhinderung von "Informationsverschmutzung" begründet und sich teilweise auf "technische Probleme" und eine angeblich nicht bezahlte Strafe Twitters herausredet.

"Hauptbedrohung der Demokratie"

Die Social-Media-Sperre trifft die Menschen hart. Denn neben 16.000 Toten wurden mindestens 67.000 Menschen verletzt, hunderttausende wurden obdachlos. Bedenkt man die riesige türkische und kurdische Diaspora in aller Welt, bangen viele Menschen um Verwandte und Freunde in der Region, die sich nun nicht mehr zur Situation melden konnten. Indes wird das Katastrophen-Management der Erdogan-Regierung scharf kritisiert. Wie Der Status berichtete, soll das Regime etwa die Hälfte der 31 Mrd. Euro schweren Einnahmen aus der 1999 erlassenen "Erdbebensteuer" in dubiose Kanäle umgeleitet haben, anstatt damit die Sicherheit der Bauwerke zu verbessern.

Es scheint, dass sich Erdogan wenige Monate vor wichtigen Wahlen gegen Kritik schützen will. Die Aktion geht auf ein Gesetz zurück, das die türkische Regierung im vergangenen Herbst erließ. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen "Desinformation" wurde die "Verbreitung falscher oder irreführender Nachrichten über die innere und äußere Sicherheit des Landes" unter Strafe gestellt. Wer nach Maß der Regierung dagegen verstößt, dem drohen bis zu drei Jahren Haft. Dasselbe gilt für Nachrichten, welche "die öffentliche Ordnung stören sowie Angst und Panik in der Bevölkerung auslösen können". Erdogan bezeichnete soziale Medien damals als "Hauptbedrohung der türkischen Demokratie".

Staatliche Hilfe lässt auf sich warten...

Die Zensur ist für Erdogan und seine AKP nun ein praktischer Hebel. Denn Insidern zufolge beklagen sich viele Menschen im Erdbebengebiet darüber, dass die Hilfen der staatlichen Institutionen noch nicht angelaufen sind. Stattdessen müssen sich unabhängige Organisationen und Vereine darum kümmern. Ob sich auch Konten dieser Hilfsorganisationen unter den gesperrten Konten und Krypto-Wallets befinden, ist bislang unbekannt. Aber auch bei der "privaten" humanitären Hilfe finden sich problematische Verschränkungen mit dem langen Arm des Erdogan-Regimes.

Roter Halbmond im AKP-Einflussbereich?

Als Chef des türkischen "Roten Halbmondes" fungiert der Arzt Kerem Kınık, der im Jahr 2019 für Aufregung sorgte, weil er schamlos politische Propaganda für den einstigen türkischen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım machte, der als treuer Erdogan-Gefolgsmann gilt. Dessen Bruder İlhami Yıldırım fungiert als Chef des wichtigen Istanbuler Zweigs der Hilfsorganisation und ist Kurator des "Roten Halbmondes". Nachdem auch noch eine Beraterin des Justizministeriums im Kuratorium sitzt, steht die Mehrheit der Organisation somit im mittelbaren Einflussbereichs von Erdogan.

Kommt österreichische Hilfe wirklich an? 

Dies wirft auch ein neues schiefes Licht auf die Freigabe von 3 Mio. Euro aus dem österreichischen Auslandskatastrophenfonds (AKF) für die Türkei durch den grünen Vizekanzler Werner Kogler. Dies brachte ihm heftige Kritik vonseiten FPÖ-Niederösterreich-Chef Udo Landbauer ein. Anstatt sich anzusehen, wohin das Geld wirklich fließt, schossen sich die Systemmedien dann auf den freiheitlichen Politiker ein, unterstellten diesem "Rassismus" und andere negative Charakterzüge. Bis dahin hatte die Regierung noch nicht offengelegt, ob die Hilfsmittel womöglich direkt an Erdogan fließt, dessen Regierung die betroffenen Kurden-Gebiete seit Jahren massiv bekämpft.

Erst am Mittwochnachmittag erklärte dann Grünen-Mandatar Michel Reimon eher salopp auf Twitter, dass er sich sicher sei, dass die Hilfsgelder an der richtigen Stelle ankommen würden, weil diese über das "Rote Kreuz etc." abgewickelt würden. Dessen Entsprechung in der islamischen Welt ist der "Türkische Halbmond", der sich in der Türkei allerdings eben im Einflussbereich Erdogans befinden dürfte. Es bleibt also weiterhin zu hoffen, dass das heimische Steuergeld wirklich bei den Bedürftigen vor Ort ankommt und nicht wie die Erdbeben-Steuer im türkischen System und für Prestigeprojekte des Erdogan-Regimes versickert...

Übrigens: Auch mit Spenden für das ebenfalls betroffene Syrien schaut es eher schlecht aus - Private dürfen wegen westlichen Sanktionen nicht einmal sammeln: 

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