Das Gerangel um die Waffenstillstands-Verhandlungen

Seit Wochen ringen die Ukraine, ihre westlichen Verbündeten und Russland nicht um das Ob, sondern um das Wie eines Kriegsendes. Einigkeit im Ziel steht tiefem Misstrauen, gebrochenen Abkommen und taktischen Überlegungen entgegen.
Ein Gastbeitrag von Dr. Alexander Neu
Gemeinsames Ziel, unterschiedliche Wege
Seit wenigen Wochen tobt ein Konflikt ganz eigener Art zwischen der Ukraine, den EU-Europäern sowie Großbritannien auf der einen und Russland auf der anderen Seite: Es geht um die Beendigung des Krieges. Wie so häufig im Leben ist man sich auf den ersten Blick im Ziel einig. Dann aber müssen die Detailfragen geklärt werden. Und diese sind mitunter selbst ein Konfliktgegenstand, der das Erreichen des eigentlich gemeinsamen Ziels verhindern kann. Worum geht es genau? Moskau und Kiew trafen sich kürzlich zum ersten Mal seit drei Jahren wieder zu Gesprächen in Istanbul. Die ukrainische Seite fordert den sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand. Seine westlichen Verbündeten unterstützen dies und drohten mit weiteren EU-Sanktionen, die dann auch tatsächlich vor wenigen Tagen erlassen wurden: das 17. EU-Sanktionspaket gegen Russland. Russland hingegen lehnt einen Waffenstillstand als Voraussetzung zu Friedensverhandlungen bislang kategorisch ab. Auf den ersten Blick scheint der erste Schritt in Gestalt eines sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstands sinnvoll, ja geradezu logisch: Erst schweigen die Waffen, dann werden die Konditionen für den Frieden ausverhandelt. Aber warum lehnt Moskau diese eigentlich logische Reihenfolge ab?
Der Bruch des Minsk-II-Abkommen und seine Folgen für neue Verhandlungen
Um diese Position Moskaus zu verstehen, muss man einige Jahre zurückgehen. Es war 2015, als Russland, die Ukraine, Deutschland und Frankreich einen Waffenstillstand und ein Friedensabkommen vereinbarten: das Minsker Abkommen. In dieser Vereinbarung wurde der chronologische Ablauf der Normalisierung zwischen der Kiewer Zentralregierung und den Aufständischen im Osten festgelegt. Der Osten sollte Teil der Ukraine bleiben, aber Autonomierechte erhalten. Dieses Minsker Abkommen wurde sodann sogar in Form einer UN-Sicherheitsratsresolution zu einem verbindlichen völkerrechtlichen Abkommen der Vereinten Nationen erhoben. Seit Anbeginn des Abkommens wurde es jedoch nicht wirklich umgesetzt. Meiner Analyse nach taten sich beide Seiten schwer mit der Umsetzung ihrer jeweiligen Verpflichtungen. Das Abkommen beinhaltete diverse aufeinander aufbauende Schritte. Letztlich hakte es bei Kiew, den nächsten Schritt zu erfüllen. Allerdings wurde Russland im Westen für den Stillstand verantwortlich gemacht, was angesichts des klaren chronologischen Ablaufs merkwürdig erschien. Ende 2022 - der offene Krieg tobte bereits seit Februar - platzte der Knoten: Die ehemalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel verriet, sekundiert von ihrem französischen und ukrainischen Kollegen, in einem Interview, dass es dem Westen und Kiew gar nicht um die Umsetzung des Abkommens gegangen sei. Vielmehr sei es das Ziel gewesen, der Ukraine Zeit zu geben. Und wofür? Für die Aufrüstung, um den Osten wieder mit Gewalt zu integrieren - auch ohne Autonomie für den Osten. Die Nichterfüllung eines völkerrechtlich verbindlichen Abkommens durch Kiew, aber auch durch Berlin und Paris, führte zu einem enormen Vertrauensverlust in die Vertragstreue, also die Zuverlässigkeit dieser Staaten. Dieses Misstrauen leitet unter anderem Moskaus Position: keine Waffenstillstandsverhandlungen und keinen Waffenstillstand, um erst dann in die Friedensverhandlungen einzutreten, sondern direkte Friedensverhandlungen, an deren Ende ohnehin ein Waffenstillstand automatisch stünde.
Die Zeit arbeitet für Moskau
Bei einem (bedingungslosen) Waffenstillstand könnte die Ukraine die Zeit zur Umgruppierung und Auffrischung ihrer Kampfkraft durch Neurekrutierungen und westliche Waffenlieferungen nutzen - so jedenfalls die Annahme Moskaus. Es geht also um die Verhinderung eines zweiten Szenarios à la Minsk-II-Abkommen, an dessen Ende eben keine Friedensverhandlungen oder ein Friedensabkommen, sondern fortgesetzte Kampfhandlungen unter dann besseren Bedingungen für die Ukraine stünden. Nicht minder relevant für Moskaus Haltung ist zudem: Die russische Armee ist seit Wochen - auch unter erheblichen Verlusten - auf dem Vormarsch, nahezu an der gesamten Frontlinie. Der ukrainische Widerstand gerät immer weiter unter Druck. Bei einem Waffenstillstand würde diese günstige Dynamik für die russischen Truppen gestoppt - die Zeit arbeitet faktisch für die russischen Streitkräfte. Jeder weitere Tag bedeutet zwar weitere Tote auf beiden Seiten, aber eben auch Geländegewinne für Russland. Angesichts dessen dürfte Moskau nur ein mäßiges Interesse an einer schnellen Lösung haben. Zumindest aber besteht kein Druck, auf einen Waffenstillstand einzugehen, der der Ukraine mehr nützen würde als Russland.
Zur Person:
Dr. Alexander Neu, ehemaliger Bundestagsgeordneter im Verteidigungsausschuss und stellvertretend im Auswärtigen Ausschuss. Er publiziert in diversen Medien zu außen-, sicherheits- und geopolitischen Themen. Alexander Neu auf X: @AlexanderSNeu