Keine Lust an der Front zu sterben: Bis zu 200.000 ukrainische Deserteure
Die ukrainische Armee hat ein massives Personalproblem. Immer mehr Soldaten verlassen die Front und desertieren, teilweise sind es ganze Einheiten, die einfach abrücken. Die Zahl der Desertionen hat sich im dritten Kriegsjahr im Vergleich zu den Jahren 2022 und 2023 mehr als verdoppelt. Und dies, obwohl des Soldaten dafür harte Strafen drohen. Viele kehren zudem aus ihrem Erholungsurlaub oder nach ihrer Genesung nicht mehr zu ihren Einheiten zurück.
Wenn SPD-Kanzler Olaf Scholz bei seinem jüngsten Besuch in Kiew der Ukraine - trotz angespannter deutscher Haushaltslage und ausreichend eigenen Baustellen - weitere Waffenlieferungen in Höhe von 650 Millionen Euro verspricht, dürfte dies nicht wirklich viel an der Situation ändern. Denn eines der Hauptprobleme der Ukraine sind nicht die Waffen, sondern diejenigen, die sie bedienen sollen. Denn der Ukraine laufen im wahrsten Sinne des Wortes die Soldaten davon. Nicht umsonst forderten zuletzt auch die USA, das Einberufungsalter von 25 Jahren auf 18 Jahren zu senken, damit Kiew die Armee wieder auffüllen kann.
Bis zu 200.000 Deserteure
So berichtet Associated Press, dass nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft seit dem Einmarsch Russlands im Februar 2022 mehr als 100.000 Soldaten nach den ukrainischen Desertionsgesetzen angeklagt wurden. AP sprach selbst mit zwei Deserteuren, drei Anwälten und einem Dutzend ukrainischer Beamter und Militärkommandeure, die aber zumeist anonym bleiben wollten. Und die Aussagen zeichnen alle das gleiche Bild. "Dieses Problem ist kritisch", berichtet etwa Oleksandr Kovalenko, ein Militäranalyst aus Kiew. "Wir befinden uns im dritten Jahr des Krieges, und dieses Problem wird nur noch größer werden".
Denn wenn nicht gleich ganze Einheiten von der Front abrücken, kommen viele Soldaten nach einem Krankenurlaub nicht mehr zurück, "geplagt von den Traumata des Krieges und demoralisiert durch die düsteren Aussichten auf einen Sieg", so AP. Auch Fälle von Befehlsverweigerung würden sich häufen. So geraten Soldaten mit Kommandanten aneinander und weigern sich, Befehle auszuführen, manchmal mitten im Feuergefecht. Und die tatsächliche Zahl der Deserteure dürfte noch deutlich höher sein, als die Zahl der Anklagen. Ein Gesetzgeber, der sich mit militärischen Angelegenheiten auskennt, schätzt, dass es bis zu 200.000 sein könnten.
Keinen Groll gegen Deserteure...
Ein Offizier des 72. Bataillons, welcher mit AP sprach, gibt sich dennoch versöhnlich gegenüber den Fahnenflüchtigen. "Zum jetzigen Zeitpunkt verurteile ich keinen der Soldaten meines Bataillons oder anderer Bataillone. [...] Denn alle sind einfach nur müde", erklärt er. Denn der Dauereinsatz an der Front ohne ausreichende Rotation hätte viele zermürbt.
Dabei war es auch das 72. Bataillon, welches an der Front von Ugledar, welches im Oktober von russischen Truppen erobert wurde, Verluste hinnehmen musste. Nur ein Linienbataillon und zwei Gewehrbataillone hielten die Stadt gegen Ende, und die militärische Führung begann sogar, Einheiten von ihnen abzuziehen, um die Flanken zu unterstützen, erklärte der Offizier. Als sich eines der Bataillone der 72. Brigade zurückzog, wurden seine Mitglieder erschossen, weil sie nicht wussten, dass ihnen niemand Deckung gab. Die dafür zuständigen Truppen dürften sich vorher abgesetzt haben.
Ebenso sind die Kampftruppen ausgeblutet, so hätte jede Kompanie des Bataillons eigentlich 120 Mann, doch aufgrund von Todesfällen, Verwundungen und Desertionen sank die Zahl der Soldaten in einigen Kompanien auf nur 10, so der Offizier. Etwa 20 Prozent der Soldaten, die in diesen Kompanien fehlten, hatten sich unerlaubt entfernt.
Proteste wegen mangelnder Ausrüstung
Auch die "Financial Times" berichtet von den Problemen der ukrainischen Armee. So seien in den ersten zehn Monaten dieses Jahres mehr ukrainische Soldaten desertiert als in den beiden vorangegangenen Kriegsjahren. Die Staatsanwaltschaft eröffnete allein in den ersten 10 Monaten 2024 rund 60.000 Verfahren gegen Soldaten, die in diesem Zeitraum unerlaubt ihre Stellungen verlassen hätten - fast doppelt so viele wie 2022 und 2023 zusammen.
Darunter auch gegen Angehörige der Brigade 123, die zu Hunderten im Oktober die Stellungen bei Ugledar verlassen hätten. "Sie kehrten in ihre Häuser in der Region Nikolajew zurück, wo einige einen seltenen öffentlichen Protest veranstalteten und mehr Waffen und Ausbildung forderten", so die FT. Und ein Offizier der Brigade, der anonym bleiben wollte, berichtet weiter über die offenen Flanken in der ukrainischen Landesverteidigung im Krieg: "Wir kamen [in Ugledar] nur mit automatischen Gewehren an. Sie sagten, es würden 150 Panzer kommen, aber es waren nur 20 [...] und nichts, um uns zu schützen", sagte ein Offizier der Brigade 123, der anonym bleiben wollte.
Weiters berichtet der Offizier, dass seine Einheit in den drei Jahren des Krieges keine einzige Rotation erlebt habe, also keine längere Pause hinter der Front, um sich auszuruhen und neue Rekruten auszubilden. Und er kritisiert auch die Kriegführung. "Niemand brauchte Ugledar, verdammt", zitiert ihn die FT. Die Stadt sei vor über einem Jahr in Schutt und Asche gelegt worden, so dass es keinen Grund gebe, seine Männer zu ihrer Verteidigung in Gefahr zu bringen. "Sie bringen sie einfach um, anstatt sie sich rehabilitieren und ausruhen zu lassen."
Erschöpft, frustriert, psychische Probleme
Ein Beamter des ukrainischen Generalstabs erklärte, dass die meisten Desertionen auf übermüdete Kämpfer - sowohl Infanteristen als auch Sturmsoldaten - zurückzuführen sind. Zwar zählt die ukrainischen Armee auf dem Papier eine Sollstärke von etwa 1 Million Personen, aber davon nehmen nur etwa 350.000 am aktiven Dienst teil. Und Dutzende Soldaten machten gegenüber der FT aus ihren Ansichten keinen Hehl. Sie seien erschöpft, frustriert und hätten mit psychischen Problemen zu kämpfen.
Die ukrainische Zivilbevölkerung wolle zwar nicht, dass ihr Land kapituliert, aber viele seien auch nicht bereit, zu kämpfen. Um dem Problem etwas Herr zu werden, versucht die Ukraine derzeit, die Vorschriften und Strafen abzuschwächen. Wenn sich Soldaten, die zum ersten Mal desertiert sind, wieder bei ihren Einheiten melden und zurückkehren, werden die Anklagen fallengelassen.
Und der ukrainische Premierminister Denys Schmigal stellte eine neue Idee vor. Demnach sollen zuerst jene, die ihre Steuern nicht zahlen würden, einen Einberufungsbescheid erhalten. Ob sich damit allerdings die Personalprobleme und die Probleme an der Front lösen lassen, ist fraglich. So errechnete die in Washington ansässige Denkfabrik Institute for the Study of War, dass Russland im Jahr 2024 etwa 2.700 Quadratkilometer erobern wird, während es im vergangenen Jahr nur 465 Quadratkilometer waren.
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